Man kennt diese Orte. Betagte Gebäude, die bessere Zeiten gesehen haben. An den Rand gedrängt, verborgen in Seitengassen und Hinterhöfen, spärlich besucht und deshalb immer kurz vor dem Ende. Offenkundig nicht zeitlos, sondern hoffnungslos anachronistisch und gerade dadurch charmant. Gedenkstätten einer klugen, herausfordernden Kultur, die immer in der Vergangenheit zu leben und in der Gegenwart zu darben scheint. Das Schöne an ihnen ist die Hässlichkeit, die spöttisch die hässliche Schönheit kommentiert, die andernorts vorherrscht. Im Inneren: Theater- und Kinosäle, Museen…
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The Grief of Others 2015
Nur für kurze Zeit lebt das Baby, und der Film schaut durch seine Augen in die Welt. Hinter einem roten Schleier sind unscharf Gesichter zu erkennen, Frauen mit sanftem Blick. Krankenhausapparaturen piepen rhythmisch. Dann nur noch Schwärze. Gleich zweimal versetzt „The Grief of Others“, der zweite Spielfilm des US-amerikanischen Regisseurs Patrick Wang, den Zuschauer in die Perspektive eines Neugeborenen kurz vor seinem Tod. Mit Anenzephalie auf die Welt gekommen, ist sein Körper nur für wenige Stunden lebendig. Was drastisch klingt,…
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Cliff Walkers 2021
Nationen, die es nicht mehr gibt, verwandeln sich in der Kunst oft in Fantasielandschaften. Kaum hören sie auf zu bestehen, kann sich das Kino ihre Existenz kaum noch vorstellen. So ist es etwa mit Mandschukuo, dem 1932 geschaffenen japanischen Marionettenstaat, offiziell geführt von Chinas letztem Kaiser. Ob in Kim Jee-woons „The Good, The Bad, The Weird“ oder Haruki Murakamis Romanen „Wilde Schafsjagd“ und vor allem „Mister Aufziehvogel“, ob bei Bernardo Bertolucci, Satoshi Kon oder Masaki Kobayashi: Es entstehen Bilder von…
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Guns Akimbo 2019
Der Internet-Troll ist nicht eben die heroischste Figur der Gegenwart. Er gilt als ausgemachter Feigling, dem der Bildschirm als Schutz vor seinen Opfern so wichtig ist, wie dem Zoobesucher die massive Scheibe vor dem Tigergehege. Als Voyeur, der fast gefahrlos eingreifen kann, ist er Zuschauer und Teilnehmer zugleich. ‚Guns Akimbo‘ kommt mit einem Internet-Troll als Hauptfigur daher und erinnert letztlich selbst an einen. Auf den ersten Blick noch schrill, aufdringlich und irgendwie gefährlich, entpuppt der Actionfilm sich alsbald als pflegeleichtes…
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Ride or Die 2021
Ryuichi Hirokis „Ride or Die“ ist ein widersprüchlicher Film: Je umfassender er sich verliert, desto mehr ist er bei sich selbst. Wo sich alle Handlung in Sonnenschein, Musik und Lachen auflöst, ist er wahrhaftig; wo Blut und Schatten an den Bildern kleben, wirkt er wie ein schmerzlicher Traum. Ein Roadmovie ohne Ziel, in dem die Reise schnell zum Selbstzweck wird. Bewegung, die eine eigene Zeit erfindet, die kaum noch etwas mit der bekannten zu tun hat. Auf einer Straße nach…
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Red Rocket 2021
Wer hat Amerika so angemalt? So bunt und grell, in Pastellfarben, die immer wirken, als würden sie den Schmerz der Menschen gleichzeitig lindern und verspotten. Sean Baker war es nicht, er hat diese Orte und Farben nur gesucht und gefunden. Jetzt erzählt er mit ihnen, von den USA und von Armut. Von Menschen-Marginalien, eilig an die Ränder der großen Erzählungen gekritzelt und ebenso schnell wieder fortgewischt. Gefunden hat er jetzt auch Simon Rex, einen bislang mäßig erfolgreichen Schauspieler (u. a.…
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King Richard 2021
Ein Mann wird geschlagen, und vielleicht hat er diese Schläge herbeigesehnt. Vielleicht leidet er gerne oder glaubt zumindest, dass das eigene Leid seine absolute Entschlossenheit beweist. Wenn Richard Williams nach Hause kommt, berichten seine Töchter nicht, er wäre verprügelt, sondern schon wieder verprügelt worden. Er ist ein Mann, der Kämpfe sucht und findet. Seine Töchter sind nicht irgendwer, sondern Venus und Serena Williams, heute die berühmtesten Tennisspielerinnen der Welt. Damals, Anfang der Neunzigerjahre, sind sie vor allem Potential. „King Richard“…
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Rifkin's Festival 2020
Eine etwas krude Taxonomie von Woody Allens Kino könnte sein Schaffen in drei Phasen unterteilen. Erste Phase: Die Filme spielen in New York. Zweite Phase: Die Filme spielen in diversen europäischen Großstädten. Dritte Phase: Die Filme spielen in Woody Allens Kopf. Sein solipsistisches Spätwerk wirkt stets wie eine Sammlung von Gesprächen, die ein älterer Herr mit sich selbst führt. Die müdesten Treppenwitze, vielleicht für Vernissagen oder Dinner-Partys, die vor drei oder vier Jahrzehnten stattfanden. Kameralegende Vittorio Storaro stellt die Sony…
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Incantation 2022
„Um nicht in Ohnmacht zu fallen, wiederhole einfach immer wieder: Es ist nur ein Film, es ist nur ein Film, es ist nur ein Film…“ Diese Tagline von Wes Cravens Exploitation-Horrorfilm „Das letzte Haus links“ erfasst perfekt die paradoxe Logik aller Sätze, die wir zu uns selbst sagen. Jedes „Ich schaffe das!“ impliziert eine Angst zu scheitern, und wer beschwören muss, dass es sich nur um einen Film handelt, zieht das Gegenteil zumindest in Betracht. In gewisser Weise wird der…
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To the Ends of the Earth 2019
Kiyoshi Kurosawa ist nicht unbedingt der erste Regisseur, an den man sich als Tourismusverband wenden würde. Seine Heimat Japan zeigt er als verfallenen Albtraum, als in Beton gegossenen, menschenfeindlichen Nicht-Ort. Was man liebt, möchte man nicht durch seine Augen sehen, und was man bewerben möchte, wohl noch viel weniger. Und doch ist sein neues Drama „To the Ends of the Earth“ das Ergebnis einer kuriosen Zusammenarbeit zwischen dem usbekischen Tourismusverband, ihrem Kino-Ableger „Uzbekkino“ und einigen japanischen Produktionsfirmen. Er wurde in…
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Reclaim 2020
Frau Yeh schaut aus dem Zugfenster und ihre Spiegelung schaut von außen hinein. Zwei Leben fahren gemeinsam durch die Jahre, ein echtes und ein geisterhaft durchscheinendes. Im Voiceover ein Streitgespräch mit ihrer Mutter. Wir erfahren, was hätte sein können: Ein Kunststudium in Paris, eine Karriere, Ruhm, Weltruhm gar. Stattdessen: Heirat, zwei Kinder, Kunstunterricht geben. Ein kleines Appartement und ein Ehemann, der kaum seinen Sessel verlässt. Das Langfilmdebüt „Reclaim“ der Taiwanesin CJ Wang erzählt von Träumen und Wirklichkeit, und trifft dabei eine einzige interessante Entscheidung - immerhin.
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The Dead Center 2018
Alles beginnt mit einem düsteren Wunder. Ein Mann (Jeremy Childs) steht von den Toten auf und erwacht in seinem Leichensack. Er hat sein Gedächtnis verloren. Aus der Dunkelheit seiner Erinnerungen suchen ihn schreiende, verzerrte Gesichter heim. Ein Teil des Jenseits ist bei seiner Rückkehr in ihm geblieben, ein bodenloses Nichts – „The Dead Center“. Der tote Punkt der Seele.